Kapitel 1: Situation weltweit
Interview mit Pio Wennubst
15. Mai 2023
Haben wir ein globales Versorgungsproblem? Falls ja, wieso?
Es gibt in der Tat ein globales Problem mit Hunger. Die Zahl der Hungernden ist im Jahr 2021, wie bereits in den Jahren 2019 und 2020, angestiegen auf ein Niveau von rund 800 Millionen Menschen. Diese Zahl und die sich dahinter verbergenden Schicksale sind inakzeptabel – umso mehr, als gleichzeitig so viele Nahrungsmittel verschwendet werden. Wir haben also ein globales Problem mit der Produktion und dem Konsum von Nahrungsmitteln.
Um die Ernährungs-probleme der Welt zu lösen, braucht es ein Zusammenwirken aller Akteure im System.
SDG NR. 2 verlangt „zero hunger“ bis 2030. Davon sind wir aktuell weit entfernt. Hat die Weltgemeinschaft versagt?
Es gibt nichts schön zu reden – wir sind nicht auf dem richtigen Weg, eine Welt ohne Hunger zu erreichen. Es ist aber gar nicht so leicht zu sagen, wo die Weltgemeinschaft versagt hat. Konflikte und Wetterextreme sind ein naheliegender Grund für akuten Hunger. Aber das Problem liegt viel tiefer: wir haben in den letzten Jahrzehnten auf ein Ernährungssystem gebaut, das nicht nachhaltig ist: Zu viel fossile Energie, zu viel Frischwasser, Verlust von Biodiversität oder Böden. Wir sind zu sehr abhängig von einer landwirtschaftlichen Produktion, die schon bei kleineren Störungen aus dem Gleichgewicht gerät. Weiter verschwenden wir zu viele Nahrungsmittel und konsumieren weder nachhaltig noch gesund. Wir müssen andererseits aber auch in Erinnerung behalten, dass die grüne Revolution ab der Mitte des letzten Jahrhunderts es geschafft hat, eine schnell wachsende Weltbevölkerung mit Nahrungsmitteln zu versorgen und viele Millionen Menschen aus dem Hunger zu befreien. Fazit: Weltweit haben die jungen Leute zu wenig Perspektive, ihren Lebensunterhalt in der Landwirtschaft und verwandten Bereichen zu verdienen. Kurz und gut: es ist höchste Zeit, etwas zu ändern.
Was schlägt die FAO vor, um diese Ernährungsprobleme zu lösen? Welche Position vertritt die Schweiz?
In der FAO – die ja als Sonderorganisation der Vereinten Nationen in gewisser Weise ein Abbild der Weltgemeinschaft ist – gibt es ein Bewusstsein, dass es kein „weiter so“ geben kann. Das Gipfeltreffen für Ernährungssysteme im September 2021 hat das gezeigt. Seither ist weitgehend anerkannt, dass wir einen grundlegenden Wandel unserer Ernährungssysteme benötigen. In der FAO, aber auch in verwandten Organen wie dem Komitee für Welternährungssicherheit, werden deshalb Empfehlungen für die Mitgliedstaaten ausgearbeitet. Ein Beispiel dazu: seit dem letzten Jahr gibt es (übrigens unter Schweizer Federführung verhandelt) Politikempfehlungen zum besseren Engagement von jungen Leuten in Landwirtschaft und Ernährung. Dort finden sich Empfehlungen zu Ausbildung, zum Zugang zu Finanzierung, zur Nutzung digitaler Technologien, zur Hofübergabe an die nächste Generation, zu Agrarökologie oder zum sozialen Schutz junger Leute, aber auch zur Stärkung von landwirtschaftlichen Familienbetrieben. Die Schweiz unterstützt diese Linie. Dafür braucht es eine Partnerschaft aller Akteure im System: der Landwirte, der Lieferanten für Produktionsmittel, der Verarbeiter, aber auch der Politik, der Verwaltung, der Zivilgesellschaft, der Forschungsgemeinschaft und nicht zuletzt jeden Einzelnen von uns als Konsumenten.